Kurze Kiezgeschichte: Impulse aus dem Hinterhof

Nachdem Kurt Mühlenhaupt aus seiner Trödelhandlung in der Blücherstraße wegsaniert wurde, zog der sonntägliche Bildermarkt auf den Platz vor der Heiligkreuz Kirche.

Berlin-Kreuzberg wurde in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Berlin (West) zum Inbegriff einer Alternativkultur, die sich vom offiziellen Kulturbetrieb am Kurfürstendamm und seiner Umgebung – teils in bewusster Opposition, teils in spielerischer Selbstbespiegelung – abhob.

Ein Grund dafür war die Randlage des ehemaligen Innenstadtbezirkes nach der Teilung der Stadt. Der Bezirk war Zentrum der drucktechnischen Betriebe gewesen. Aus deren in der Nachkriegszeit teils aufgegebenen Hinterlassenschaften konnten sich viele Künstler mit Maschinen und Material eindecken, sie übernahmen leere Fabriketagen als Wohn- und Arbeitsraum. Auch der Leerstand vieler Ladenräume animierte zu neuen Wohn- und Präsentationsformen.

Im Szenebezirk Kreuzberg erwuchs somit ein für das gesamte Berlin exemplarischer Freiraum, in dem sich Ironie, Naivität, Phantasie und Außenseitertum zu einer unnachahmlichen, durchaus auch widersprüchlichen Mixtur verbanden – mit Auswirkungen auf das damalige kulturelle Klima des westlichen Berlins und existenziell-konzeptionellen Verbindungslinien bis ins gegenwärtige Kulturleben in Friedrichshain-Kreuzberg, im übrigen Berlin und darüber hinaus.

Der sonntägliche Bildermarkt vor Mühlenhaupts Trödelhandlung.

Galerie zinke

Die Initialzündung ging von der Galerie Zinke aus, die von den Künstlerpoeten Günter Bruno Fuchs und Robert Wolfgang Schnell, dem Bildhauer Günter Anlauf und dem Maler Sigurd Kuschnerus ins Leben gerufen wurde und wo Autoren wie Günter Grass, Peter Hamm und Rolf Haufs zu Wort kamen. Schnell erinnert sich:

„Günter Bruno Fuchs war geborener Kreuzberger und blieb es, obwohl er nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr in Kreuzberg wohnte. Aber dort waren seine Straßen, seine Plätze, seine Menschen, und er überzeugte die Mitgründer Anlauf und Schnell 1959, daß hier die Stelle wäre, Kunst aus den ästhetischen Zirkeln herauszuholen und sozial fruchtbar zu machen.“

Kurt spielt auf seinem Leierkasten für seine Nachbarn am Chamissoplatz.

Die zinke in der Oranienstraße zog bis zu ihrer Auflösung 1962 Tausende von Besuchern an, bis zum Mauerbau auch viele aus dem Osten, die Galeristen veranstalteten zahlreiche Ausstellung und Lesungen. Kunst und Leben verband sich in einer für spätere Produzentengalerien vorbildlichen Weise. Die zinke brachte Kreuzberg ins Gespräch – und ins Gerede. Der Kunsthistoriker und Begründer der Berlinischen Galerie, Eberhard Roters, schrieb:

„Der Rückzug auf den Kiez, wie es den Anschein hat, ist in Wirklichkeit gar kein Rückzug, sondern die Herausforderung von einigen Individualisten gegen die Nivellierungstendenzen des internationalen Einheitsindividualismus.

Kurt Mühlenhaupt: König von Kreuzberg

Wenn Sie mit Hinweisen helfen können, um das „Who is who“ der Kreuzberger Bohème zu ergänzen, gegebenenfalls zu korrigieren oder uns mitteilen möchten, wer Ihrer Meinung nach hier außerdem aufgeführt werden sollte, dann wenden Sie sich gern per Mail an: mail@muehlenhaupt.de.

Zeitgleich zur zinke wurde Mühlenhaupts Trödelhandlung in der Blücherstraße zum Treffpunkt der Nichtangepassten und Bohemiens, und Mühlenhaupt avancierte zum Milieumaler par excellence, zum ungekrönten „König von Kreuzberg“, im Berliner Westen bekannt und populär wie Bubi Scholz oder Harald Juhnke. Mit seiner Künstlerkneipe Leierkasten in der Zossener Straße, in der unter anderen Gerhard Kerfin, Ingo Insterburg, Lothar Klünner und Johannes Schenk Texte und Lieder vortrugen, Manfred Beelke, Artur Märchen und Pit Morell ausstellten, machte er ebenso Furore wie mit seinen „Biertrinkerblättern“. Aus dem Bildermarkt vor seiner Trödelhandlung ging 1963 der Kreuzberger Bildermarkt am Fuße des Kreuzbergs hervor: „Kunst auf der Wäscheleine“ textete die zeitgenössische Presse.

Kurts Verehrerinnen nach einer Austellungseröffnung.

Die Kleine Weltlaterne

Im Atelier in Kladow

Zu einem weiteren Zentrum der Kreuzberger Boheme wurde das 1961 von Hertha Fiedler aus der Taufe gehobene Lokal Kleine Weltlaterne in der Kohlfurter Straße, in dem sich Kunst, Literatur und Musik, geistig und alkoholisch Hochprozentiges, auf hohem Niveau miteinander verbanden. Hier verkehrten – neben Prominenten wie Günter Grass, Friedrich Dürrenmatt, André Heller, Friedensreich Hundertwasser und Henry Miller – die Mitglieder der Werkstatt Rixdorfer Drucke aus der Oranienstraße und der weltberühmte Art brut Künstler Friedrich Schröder-Sonnenstern, hier stellten unter vielen Arwed D. Gorella, Johannes Grützke, Rudi Lesser und Reiner Schwarz aus, hier lasen Jürgen Beckelmann, Ulf Miehe, Kurt Neuburger und Robert Wolfgang Schnell, der mit seinem Roman „Geisterbahn. Ein Nachschlüssel zum Berliner Leben“ der Kreuzberger Szene ein Denkmal setzte.

Keimzelle einer Subkultur

Die Kreuzberger Boheme umfasst viele Facetten. Ihre Protagonisten waren teils in Kreuzberg geboren, lebten und arbeiteten in Kreuzberg, stellten dort aus oder nahmen sich Kreuzberg zum Thema. Der innerstädtische aber mauernahe Bezirk, wurde zum lebensgeschichtlichen und geistigen Anziehungspunkt für viele, Kreuzberg zum Treffpunkt auch internationaler künstlerischer und intellektueller Besucher sowie neugieriger Touristen. Die Kreuzberger Boheme war die Keimzelle einer Subkultur, die in den folgenden Jahrzehnten den Bezirk – auch in erweiterter Form – als Zentrum einer lebendigen und innovativen Szene positionierte, die auf die Stadt und auch weit darüber hinaus bis heute ausstrahlt.

Admiralsbrücke am Landwehrkanal